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Film und Realität vermischen sich

Film und Realität vermischen sich Ein Artikel der Straßenzeitung zebra.

Interview mit Kameramann Christopher Auon und Cutter Konstantin Bock des Sozialdramas „Capernaum“, welches von der Geschichte eines Straßenjungen im turbulenten Beirut erzählt. 

Text: Verena Gschnell, Monika Thaler
Fotos: Anna Mayr

Ein Artikel der Straßenzeitung zebra.vom Dezember 2019


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Die Filmmacher vor dem Filmfestival

Das libanesische Sozialdrama „Capernaum“ der Regisseurin Nadine Labaki erzählt die Geschichte eines Straßenjungen im turbulenten Beirut. 2018 wurde der Film in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnet und anschließend für den besten fremdsprachigen Film bei den Oscars 2019 nominiert. Im Rahmen des OEW-Filmfestivals waren Kameramann Christopher Auon und Cutter Konstantin Bock zu Besuch in Brixen. zebra. traf sie zum Interview und erfuhr, was den Film so besonders mach: die Perspektive.

„Capernaum“ wird schonungslos aus der Perspektive des 12-jährigen Zain erzählt. Welche filmemacherischen Herausforderungen brachte diese Besonderheit mit sich?
Christopher Auon: Zain und auch die anderen Darsteller*innen haben wir auf der Straße getroffen. In diesem Film erzählen wir ihr Leben. Für mich als Kameramann war es in erster Linie wichtig zu wissen, wie sich dieser Junge fühlt. Die größte Herausforderung war es, seine Lebensrealität visuell Film einzufangen. Dafür mussten wir diese Realität, die Menschen und ihre Perspektiven kennenlernen: Wir haben zahlreiche Kinder, Familien und Heime besucht. Wir haben viel Zeit mit den Menschen verbracht, bevor wir erstmals die Kamera mitnahmen. Wir konnten so ein Gefühl dafür entwickeln, wie das Leben auf der Straße läuft. Erst dann haben wir uns die Frage gestellt, wie wir die Geschichte erzählen können, um ihr gerecht zu werden.

Ihr habt also die gängige Reihenfolge umgedreht?
Auon: Ja, normalerweise gibt es vorab ein Drehbuch, nach dem sich jede*r zu halten hat. Bei diesem Film hat das Drehbuch die Narration vorgegeben und die Darsteller*innen haben es mit ihrem Leben gefüllt. Die Schauspieler*innen konnten nicht lesen. Wir sind also dem Rhythmus des Kindes gefolgt, haben darauf reagiert und ihm die Führung überlassen. Wir waren somit näher an der Realität und ließen die Menschen mitsprechen. Dabei geht es vor allem um den Respekt. Wir wollten ihnen eine Stimme geben und ihnen keine Worte in den Mund legen.


Nicht nur die Erzähl-Perspektive ist ungewöhnlich, auch der Cast und die besonders lange Entstehungszeit. Warum habt ihr euch für diese spezielle Arbeitsweise entschieden?
Konstantin Bock: Wir wollten einen Realismus zeigen, den wir bei Spielfilmen nicht mehr sehen. Deshalb wurde bei diesem Film das gesamte Geld in die Zeit investiert. Nicht in Technik oder teure Einstellungen, nicht in berühmte Schauspieler*innen, sondern in die Zeit mit den Darsteller*innen und für ihre Geschichten. Wir haben den Film chronologisch gedreht, also eine Szene nach der anderen in der genau richtigen Abfolge. Das ist sehr ungewöhnlich, weil diese Vorgangsweise viel zu teuer ist, wenn ich beispielsweise eine Location mehrmals mieten muss. Es war aber wichtig, dass sich die Schauspieler*innen nicht wie auf einem Filmset fühlten. So konnten sich Film und Realität vermischen.

Perspektive ist ein Leitthema in eurer Arbeit. Ihr plädiert auch dafür, Filme möglichst in ihrer Originalsprache anzusehen. Warum?

Bock: Der Film versucht authentische Momente einzufangen und die Darsteller*innen haben sich über Monate mit ihrer Figur auseinandergesetzt. Sie drücken ihre Rolle nicht nur mit Gesten aus, sondern auch mit ihrer Stimme, der Tonlage usw. Eine Synchronstimme ist immer aufgesetzt und künstlich. Außerdem nimmt es, wenn man metaphorisch denkt, den Schauspieler*innen die Stimme, die ihnen der Film eigentlich geben will. Das sind Stimmen, die durch das Erlebte physisch und psychisch geformt sind. So hat zum Beispiel ein Junge, der im echten Leben misshandelt wurde und erzählt, wie er mit einem Gürtel verprügelt wird, eine andere Stimme als ein Synchronsprecher-Kind, das drei Tage Zeit für die Aufnahme hat, aus einer deutschen Mittelschichtsfamilie kommt und im Anschluss wieder in sein warmes Haus geht.
Auon: Und als Zuschauer*in bekommt man unbewusst mit, dass Bild und Ton nicht ganz übereinstimmen.
Bock: Ich vergleiche Synchronfassungen sind ähnlich wie wenn man sich die Mona Lisa auf einer Postkarte anschaut. Es ist immer die Mona Lisa aber es ist was anderes, vor dem tatsächlichen Gemälde zu stehen und jeden Pinselstrich zu sehen.

Ihr habt für Capernaum zwei Jahre im Libanon gearbeitet. Wie habt ihr die Situation vor Ort wahrgenommen?
Auon: Ich bin im Libanon in einem Umfeld aufgewachsen, das keine Berührungspunkte mit den Slums und somit mit den Menschen aus der finanziellen Unterschicht hatte. Für mich waren die Begegnungen in diesen Vierteln so, als wäre ich im Ausland. Es fahren zwar alle in Beirut gelegentlich durch diese Bezirke und sieht kleine Kinder, die an die Fensterscheiben klopfen, doch man ignoriert diese Menschen. Den Libanon von dieser neuen Seite kennenzulernen, war sehr beeindruckend für mich. Es hat mir eine neue Verbindung zum Land gegeben. Ich wollte dem Land etwas zurückgeben und „unsichtbaren“ Menschen eine Stimme geben.

Was ist das Wichtigste, um als Filmmacher*in ein realitätsnahes Bild eines Landes wiedergeben zu können?
Auon: Es ist unglaublich wichtig, sich gut auf die Menschen und ihren Alltag vorzubereiten und ihre Art zu Leben und zu sprechen zu studieren, bevor der dreh beginnt. Ohne Zugang zu den Menschen gelingt dies nicht.
Bock: Für mich als Cutter war es hingegen sehr wichtig, am Set vor Ort zu sein. Normalerweise verkriecht sich der Filmeschneider in seinem Büro und bekommt leider nicht viel vom Set mit. Ich wollte erleben, wie dieser Ort riecht, wie er lebt, welcher Rhythmus dort läuft. Nur dadurch konnte ich die Geschichte hinterher realitätsgetreu erzählen.

 

Der Film handelt von Straßenkindern, die unter dramatischen Umständen aufwachsen. Trotzdem war es nicht euer primäres Ziel, Mitleid zu erregen. Was dann?
Bock: Menschen haben viele Facetten und Filme dürfen nicht nur eine aufzeigen. Es soll somit nicht nur Leid erzählt werden. Nehmen wir kurz den Film als Beispiel: Rachel lebt in unfassbaren Verhältnissen – sie muss ihr Kind verstecken, lebt illegal im Land, hat nicht viel Geld – und dennoch schafft sie es als einzige Person im Film, Liebe zu geben. Trotz schwieriger Umstände kann jede*r etwas Positives schaffen. Menschen in all ihren Facetten wahrzunehmen, im echten Leben so wie auf der Leinwand, war uns wichtig. In den zwei Jahren im Libanon sind mir kaum Menschen begegnet, die sich über ihr Leben beschwert haben, sondern viele Menschen, die mir einen Kaffee gekocht, mit mir geplaudert und sich für mich darüber aufgeregt haben, dass ich wieder arbeiten gehen muss, weil es doch viel netter wäre, jetzt noch miteinander zu reden. Es gibt viele Geschichten und nicht nur die eine, die immer wieder erzählt werden soll.

Ist der Film gesellschaftskritisch?
Auon: Durchaus. Wir wollen eine Debatte zum gesamten politischen System führen. Der Film wirft viele gesellschaftskritische Fragen auf. Im Alltag schauen wir nicht so gerne in bestimmte Ecken, wir ignorieren lieber Menschen am Rande unserer Gesellschaft. Aber dies hat große Konsequenzen. Nur weil ich wegschaue, bedeutet das nicht, dass diese Menschen nicht existieren. Wir haben den Fokus genau auf jene Menschen gelegt, deren Leben als nicht so wertvoll gilt. Das stimmt aber nicht, denn jedes Leben ist wichtig. Deshalb ergibt sich die zentrale Frage, wie man diese Menschen dabei unterstützen kann, ein Teil der Gesellschaft zu werden. Wir regen durch unsere Filme also Fragen und Debatten an. Antworten können aber keine geben.
Bock: Als Filmemacher können wir nicht bestimmen, was dieser Film mit dem Publikum macht. Ich kann alles dafür tun, damit der Film die Menschen emotional erreicht und im Idealfall etwas auslöst. Wie sich das dann aber ausformuliert, wohin sie gehen, nachdem sie den Kinosaal verlassen haben, das steht nicht i unserer Macht.

Film ist ein mächtiges Medium.
Bock: Ja total! Es hat eine Stimme, die sehr laut sein kann. Deshalb muss man sich als Filmemacher ganz genau überlegen, was man mit dieser Stimme sagt und wem man sie gibt.

 

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