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Angeklagt im Theater

Angeklagt im Theater

Dunkelheit fällt in den Saal als ein Schrei die noch flüsternden Stimmen jäh zum Schweigen bringt. Das Publikum erstarrt, saugt sich am Bühnenbild fest, wo eine rückwärts laufende Uhr die Stunden, Minuten, Sekunden bis zum nächsten Todesschrei zählt.

Text: Valentina Gianera
Fotos: Silbersalz

Ein Artikel der Straßenzeitung zebra. vom November 2022


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72:00:00 – 71:59:59 – 71:59:58 Alle 72 Stunden wird in Italien eine Frau durch die Hand eines Mannes ermordet. Diese Tatsache haben die Wissenschaftlerin und Aktivistin Barbara Plagg (Text) und Regisseur Torsten Schilling nun ausgehend vom Femizid an Barbara Rauch im März 2020 in ein Theaterstück gegossen, das von September bis November in Bruneck, Bozen und Meran zu sehen ist.
Auf der schwach beleuchteten Bühne tanzt eine Frau, Eva, die sich stellvertretend für die in Italien und anderswo ermordeten Frauen in einem Fadennetz verfängt. An den Netzenden steht nicht nur der Mörder, der die Stricke fest um die Frau spannt, sondern auch all jene Menschen, die sich aus der Verantwortung ziehen und somit bewusst oder unbewusst ein krankes System am Laufen halten: die Angeklagten.

„Wer rechnet schon mit sowas?“, fragt eine Nachbarin der Ermordeten in den mit Spannung getränkten Raum. Die trockene Antwort der Ermittlerin: „Die Ermordete anscheinend. Sie hat mehrmals Anzeige erstattet“.


Auf diese Weise wird das Wegschauen der Nachbarin genauso zur Anklage gebracht, wie die Untätigkeit der Polizei, die die Anzeige aufnimmt oder das Schweigen des Priesters, der für die Ermordete nichts als Floskeln übrig hat. Auch die Rolle von Sensationsjournalismus und die Prioritäten der Politik werden in der Suche nach den Schuldigen verurteilt: Eine Aktion zur richtigen Handhabung von Hundekot wird finanziert; für die Informationskampagne zum Codewort Erika, mit dem sich Frauen in Gewaltsituationen zu erkennen geben, fehlt das Geld.


So bewegt sich das Stück auf zwei Zeitsträngen, die Gegeneinander anlaufen: die Suche nach den Schuldigen, die die Vergangenheit inspiziert und das Warten auf das nächste Opfer, das sich weiter im gesellschaftlichen Fadennetz bewegt. Mit jeder verstrichenen Sekunde wächst die beklemmende Erwartung; das Gefühl, dass der nächste Todesschrei trotz aller Bemühungen von Seiten der Ermordeten, ihr Recht auf Schutz vor der absehbaren Gewalt eines Mannes gültig zu machen, nur noch wenige Augenblicke weit weg ist.


 „Wozu haben Frauen sechs Lippen?“, unterbricht eine mechanische Frauenstimme die Handlung. Was in der nächsten Kneipe mit einem Schulterzucken durchgewunken wird, lässt in dem kleinen Theater den Zuschauer*innen den Atem stocken. Die feinen gesellschaftlichen Fäden, die sich um die Mordopfer spannen, heben sich plötzlich reliefartig vom Hintergrund ab.


Die Frau im Fadennetz wehrt sich gegen den auf sie zutreibenden Tod. Wir, die Zuschauer*innen, warten. Wieder und wieder auf den nächsten nun so offensichtlichen, vermeidbaren Schrei. 72:00:00 – 71:59:59 – 71.59:58

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