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Warum wir aufhörten, Kinder zu kriegen

Warum wir aufhörten, Kinder zu kriegen

Eine chinesische Geschichte
我们为何停止生孩子-一则中国故事


VON LI HUA

Ein Artikel der Straßenzeitung zebra.


Ich bin dreiunddreißig. Frau. Chinesin. Nach Ansicht der älteren Generationen sollte ich längst ein Kind haben. Wenn ich noch länger warte, sagen sie, wird es zu spät sein. Doch sie haben keine Vorstellung von dem Druck, der im heutigen China mit dieser Entscheidung einhergeht.

„Du solltest dich beeilen – solange ich noch die Kraft habe, dir zu helfen“, sagte meine Mutter an einem Frühlingsabend, kurz vor meiner Rückreise nach Peking. Ihre Stimme war weich, zerbrechlich, als hätte sie wochenlang mit sich gekämpft, ehe sie den Mut fand, darüber zu sprechen. Anhand meiner Haltung in den letzten Jahren musste sie gespürt haben, dass ich keine Kinder will. Sie hat recht. Ich will keine.

Als ich in meinen Zwanzigern diesen Gedanken äußerte, taten ihn die Verwandten als kindisch ab, als erinnerten sie sich an ihre eigenen frühen Ängste vor Ehe und Mutterschaft. Sie duldeten es – vorübergehend – und fügten wahrsagerisch eine Prophezeiung hinzu: „Gib der Sache ein paar Jahre, dann änderst du deine Meinung bestimmt.“ Die Jahre sind vergangen, doch meine Meinung hat sich nicht geändert – im Gegenteil: Sie hat sich gefestigt.

Die Wirtschaft wird schlechter und die Welt scheint auf so viele Arten auseinanderzufallen. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass wir uns auf eine hoffnungsvollere Zukunft zubewegen. Es ist, als stünden wir an einem Scheideweg der Geschichte. Wenn ich damals schon keinen Grund sah, ein Kind zu bekommen, sehe ich heute noch weniger Grund dafür. „Ich werde kein Kind bekommen und außerdem will ich keine Mutter sein“, antwortete ich nüchtern und kalt. Sofort brach aus ihr die Angst hervor, die tiefste Angst einer chinesischen Mutter: „Und wer kümmert sich dann um dich, wenn du alt bist?“

Genau darum geht es. Ganz gleich, was die Regierung in Sachen Altenfürsorge verspricht – Menschen ihrer Generation wissen tief in sich, dass sie nur auf ihre eigenen Kinder zählen können. Wie das alte Sprichwort besagt: „Zieh ein Kind groß, um im Alter versorgt zu sein“ (养儿防老). Mit meiner Geburt bestätigte Mama diesen Glaubenssatz. „Schau mich an!“, sagte sie an diesem Nachmittag mit zufriedener Stimme. „Wie hätte ich ohne ein Kind jemals in dieser schönen Wohnung leben können?“

Aber Mama, du hast keine Ahnung, unter welchem Druck man heutzutage steht, wenn es um das Kinderkriegen geht. Nicht nur wegen des Geldes, sondern wegen der Angst, der seelischen Belastung, die mit dieser Entscheidung einhergeht. Das dachte ich – und sagte nichts. Am nächsten Morgen brachte mich meine Mutter zum Taxi, das mich zum Flughafen bringen sollte. Wir sprachen über belanglose Dinge, als hätten wir das schwerste aller Themen vergessen. Ich wusste, dass sie litt. Ich litt ebenso. Keine von uns beiden trug die Schuld daran.

N-Child Policy

“计划”生育

In jener Nacht, zurück in meiner Wohnung, versuchte ich mich an den Ursprung dieser Entscheidung zu erinnern, die vor fast zehn Jahren in mir Wurzeln geschlagen hatte. Es war 2016. Am ersten Tag des Jahres verkündete die Regierung eine historische Wende in der Bevölkerungspolitik: Das Ein-Kind-Gesetz wurde aufgehoben und alle Paare durften fortan zwei Kinder bekommen. Damit endeten sechsunddreißig Jahre der landesweiten Ein-Kind-Politik.

Ich bin ein Produkt dieser Ära. Ohne Geschwister, in Einsamkeit aufgewachsen und mit all den Hoffnungen meiner Eltern beladen, das Schicksal der Familie zu retten, wurde ich zu einer Erwachsenen – überschattet von unsichtbaren Wunden. Ich habe sie nie gefragt, ob sie sich ein weiteres Kind gewünscht hätten. Aber ich wünschte, es wäre so gewesen. Dann hätte ich heute jemanden, mit dem ich den Druck teilen kann, während ich dabei zusehe, wie sie alt werden.

Meine Mutter hat acht Geschwister. Obwohl sie sich die Pflege ihres Vaters in dessen letzten Jahren aufteilten, waren sie alle erschöpft. Mein Vater hat zwei Brüder und teilt dieselbe Geschichte. Jetzt bin ich an der Reihe. Mein Lebenspartner und ich tragen die Verantwortung für vier Eltern. Wenn wir ein Kind bekämen, würden wir in der gefürchteten 4-2-1-Struktur feststecken: vier Alte, zwei Erwachsene, ein Kind. Die Belastung in den kommenden Jahrzehnten wäre für uns beide nicht zu ertragen.

Meine Eltern hatten keine Wahl. In den 1970ern, aus Angst vor dem Bevölkerungsboom, prägte die Regierung den Slogan „Weniger, später, langsamer.“ 1980 wurde die Ein-Kind-Politik schließlich gesetzlich verankert. Von da an war eine zweite Geburt illegal. Nachdem sie mich bekommen hatten, wurden meine Eltern zur Sterilisation gezwungen. Sie mussten akzeptieren, dass sie ihr Leben lang keinen Sohn haben würden. Das war der Kompromiss damals – als sie so alt waren wie ich – im großen Narrativ der Nation. In der chinesischen Kultur liegt das Recht, die Blutlinie fortzuführen (传宗接代), allein bei den Söhnen; Töchter hingegen sind dazu bestimmt, ein Teil der Familie ihres Ehemanns zu werden.

Selbst als die Regierung neue Parolen an die Wände malte – „Jungen und Mädchen sind gleich“, „Töchter sind ebenso wertvoll“ – wollten viele Menschen dieses Schicksal nicht hinnehmen. Sie riskierten alles, um ein zweites Kind zur Welt zu bringen, opferten ihre Karrieren, leerten ihre Ersparnisse und nahmen jahrzehntelange Geldstrafen in Kauf. Das waren noch die milderen Folgen. In einem Dorf ordneten Beamte eine „Hundert-Tage-ohne-Geburt“-Kampagne an: Jede Schwangerschaft – ob erste oder zweite, neu oder schon fast ausgetragen – musste beendet werden. Einmal sah ich ein altes Foto einer Frau im siebten Monat, die ihr abgetriebenes totes Kind im Arm hielt. Ihre Augen waren leer und verstört. Dies war keine Geschichte aus einer fernen Vergangenheit. Es geschah 2012.

Es ist ein vertrautes Muster: Wenn die politischen Ziele Vorrang haben, muss alles andere weichen, sogar die Menschen selbst. Ich ekelte mich davor. Es war, als wollten sie über unsere Gebärmütter herrschen. Was sie gewähren, ist keine Geburtenfreiheit – es ist eine Erlaubnis. Seitdem ist das Kinderkriegen keine private Entscheidung mehr, sondern eine Antwort. Ein Kind zu bekommen bedeutet gehorchen. Es nicht zu tun bedeutet Widerstand. Im Jahr 2021 schließlich forderten sie uns auf, drei zu haben.

GroßMUTTER

祖“母”们

Seit ich meinen Job aufgegeben habe, um zu freelancen, ist mein Leben voller Kinder. Jeden Morgen klettern ihre Rufe hoch, über zehn Stockwerke bis hinein in meine Pekinger Wohnung. Dann folgen die Stimmen der Erwachsenen, immer im selben Tonfall: warm, geduldig, alt und weiblich. Ich begegne ihnen in meinen Pausen, wenn ich nach unten ins Freie gehe. An Werktagen sind sie es, die ich am häufigsten sehe: ältere Frauen, die Kinder betreuen. Sie scheinen wie aus derselben Form gegossen: leicht nach vorne gebückt, kurz geschnittenes, locker gewelltes Haar, das sich leicht pflegen lässt, weite, praktische Kleidung, niemals modisch. Die meisten sind vor kurzer Zeit in die Stadt migriert. Ich erkenne, ohne zu fragen, dass sie in ihren Sechzigern sind. In China gehen Frauen mit fünfundfünfzig in Rente. Das mag zwar früh klingen, aber keine Angst, die Ruhe währt nicht lange. Eine neue Aufgabe wartet bereits: die Enkelkinder.

Es ist ein Vollzeitjob. Kinder wecken, füttern, Wäsche waschen, zur Schule bringen, wieder abholen. Mit ihnen spielen, sie in den Schlaf wiegen. Oft übernehmen sie auch die gesamte Hausarbeit. Sie haben hier keine Freunde, trauen sich nicht, allein U-Bahn zu fahren, und die Stadt ist zu gigantisch, um sich selbst darin zurechtzufinden. Also bleibt ihnen nichts anderes, als in der Rolle von Großmutter und Kindermädchen gefangen zu sein – und die Demütigung zu ertragen, mit den eigenen erwachsenen Kindern in eine kleine Wohnung gequetscht zu sein. Ich möchte nicht, dass meine Mutter von dieser Rolle versklavt wird. Doch wenn wir ein Kind hätten, bliebe uns keine Wahl. Wir würden die Hilfe einer Großmutter brauchen.

Die Arbeitsbelastung für Büroangestellte in Peking kann extrem sein. Nehmen wir meinen Freund als Beispiel: Er verlässt das Büro meist erst um 22 Uhr. Bei großen Internetfirmen dehnt sich der Arbeitstag oft bis elf oder sogar bis nach Mitternacht. Da kommt die Großmutter ins Spiel, um ihre Tochter oder Schwiegertochter zu retten, damit diese ihren Job behalten kann. In China dauert der Mutterschaftsurlaub 98 Tage, mit jedem weiteren Kind 15 Tage mehr. Väter bekommen deutlich weniger: 15 Tage in Peking, zehn in Shanghai.
Und als Anreiz zur Familiengründung hat die Regierung zusätzlich fünf Tage „Elternzeit“ pro Jahr gewährt, bis das Kind drei Jahre alt ist. Aber mal ehrlich: Reicht das überhaupt, damit ein Vater lernt, eine Windel zu wechseln, das Baby zu füttern oder es zum Bäuerchen zu bringen? Zudem ist es bezeichnend, dass Müttern mehr freie Tage zustehen als Vätern. Es zeigt, dass Schwangerschaft und Kindererziehung als Frauensache gesehen werden. Diese Annahme sitzt tief in der gesellschaftlichen Struktur – unsichtbar, aber absolut. Und ich verachte das.

Die meisten Kosten für den Mutterschaftsurlaub trägt nicht der Staat, sondern das Unternehmen selbst. Dieser Fakt bestimmt, wie man uns dort sieht: als mögliche Zeitbombe, schon ab dem Moment, in dem wir uns auf die Arbeitssuche begeben. Mit zweiundzwanzig, frisch von der Uni, hören wir in Vorstellungsgesprächen Fragen wie „Wann wollen Sie heiraten?“ oder „Planen Sie, Kinder zu bekommen?“. Weil wir gebären können, ist unser Geschlecht zum Risiko im Berufsleben geworden. Eine Schwangerschaft kann das Ende einer Probezeit bedeuten. Mutterschaftsurlaub wird manchmal so behandelt, als gehöre dein Schreibtisch bereits jemand anderem. In sozialen Medien kursieren zahllose Ratgeber, wie man eine Schwangerschaft im Büro verbergen kann. In der Praxis bringt ein Kind einer Familie, wenn überhaupt, nur einen beruflichen Vorteil: dass der Job des Mannes sicherer wird – denn in den Augen der Arbeitgeber nimmt ein Vater alles hin, wenn er eine Familie zu Hause hat.

Politischer Slogan der Kommunistischen Partei: „Drei Kinder sind am besten – dann musst du im Alter nicht vom Staat versorgt werden.“

Kann ich ein Kind richtig erziehen?

我能教对孩子吗?

Auf persönlicher Ebene hätten wir die Möglichkeit, manchen dieser Probleme zu entkommen. Unser Einkommen reicht für ein angenehmes Leben in der Mittelschicht Pekings. Wenn wir wollten, könnten wir sogar eine Nanny engagieren, um mit dem Mangel an öffentlichen Betreuungseinrichtungen umzugehen. Aber eines, fürchte ich, könnten wir nicht schützen: die Erziehung unseres Kindes.

Ich habe Angst, dass Kinder heute kaum noch die Freude am Lernen spüren, sondern nur die Bitterkeit des brutalen Wettbewerbs. Hätten wir ein Kind, so würde es, wie ich damals, auf eine standardisierte Bahn gebracht werden, alles ausgerichtet auf das eine Ziel, das seine Zukunft bestimmen wird: den Gaokao, die Aufnahmeprüfung für die Universitäten. Dieser Weg ist gepflastert mit Tausenden Tagen, die um sechs Uhr morgens beginnen und erst um Mitternacht enden – gefüllt mit Testbögen, Erschöpfung, Angst und spiritueller Taubheit.

Um bessere Ergebnisse zu erzielen als andere, beginnen sie schon im Kindergarten mit weiterführendem Unterricht und absolvieren zum Beispiel den Englischstoff der dritten Klasse, also jenen für Zehnjährige, bereits im Alter von nur fünf Jahren. Sie werden zu endlos vielen Förderkursen geschickt: Tanz, Malerei, Klavier – nicht, um die Schönheit der Kunst zu erleben, sondern um ihren Lebenslauf zu polieren und für die spätere Aufnahme an den besten Grund-, Mittel- und Oberschulen vorzubereiten. Sie werden in Fitnessstudios geschickt – nicht für ihre persönliche Gesundheit, sondern um dem staatlich festgelegten Fitnessstandard gerecht zu werden.

Oft ist der Gaokao der einzige Weg, über den Menschen aus Arbeiterfamilien wie meiner in eine höhere Schicht aufsteigen können. So habe ich damals das Schicksal meiner Familie verändert, doch eines Tages habe ich den Preis bezahlt und erkannt, dass ich meine einzige Chance auf eine „glückliche Kindheit“ dafür geopfert habe. Doch mein Kind könnte das Familienschicksal trotz solcher Opfer nicht zum Besseren verändern. Die Gesellschaft stagniert. Gute Jobs werden seltener, Uni-Absolventen zahlreicher. Die uns versprochene Zukunft ist verschwunden, doch das System steht noch immer felsenfest. Selbst wenn ich mein Kind auf meine eigene Art erziehen könnte – sobald es die Schule betritt, muss es die strikten Regeln befolgen, so wie ein Zug nur auf den Schienen fahren kann. Und die Schulbücher werden immer stärker von Ideologie durchtränkt. Es würde für mein Kind schwierig sein, inmitten der umgeschriebenen Zeilen und hohlen Parolen noch die Schönheit von Geschichte und Politik zu erkennen.

Lehrpersonen übernehmen heute zunehmend Verwaltungsaufgaben und helfen der Regierung, Maßnahmen durchzusetzen, die sonst auf Widerstand stoßen könnten. Während der Pandemie verteilten sie Neuigkeiten zu den Impfungen über die Kinder, die damit zu Boten zwischen Staat und Eltern gemacht wurden. Wer sich weigerte, dessen Kinder bekamen es zu spüren: Sie wurden im Unterricht isoliert, auf Anweisung der Lehrkräfte. Das ist kein Märchen. Es ist Menschen in meinem persönlichen Umfeld passiert. Ich finde es ist kaum zu ertragen, sich die Traurigkeit eines Kindes vorzustellen, das die Welt so erleben muss. Aber es zeigt, wie die Logik funktioniert: Bildung ist der letzte Teil eines Systems, dem man, sobald man ein Kind hat, kaum entkommen kann. Gestern waren es Impfungen. Morgen sind es verpflichtende patriotische Filme.

Übermorgen könnten es Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung sein – zur Füllung der Staatskassen. Wenn die Menschen den neuen Vorgaben der Regierung nicht mehr folgen, werden die Schulen zu ihrer letzten Waffe. Um ihrer Kinder willen bleibt den Eltern dann nichts anderes übrig, als sich zu fügen.

Mama weiß genau, wie sich die Atmosphäre an den Schulen verändert hat. Sie erlebt es täglich. Nachdem der Kindergarten, in dem sie früher gearbeitet hatte, während der Pandemie geschlossen wurde, wurde sie als Reinigungskraft an einer nahegelegenen Schule angestellt.

Da sie keine Enkelkinder hat, die ihre Zeit in Anspruch nehmen, geht sie lieber arbeiten, als zu Hause zu bleiben. Dort hört sie, wie Lehrer schreien, sie hört die Nachrichten von Schülern, die sich vom Dach gestürzt haben. Aus Sicherheitsgründen durften Kinder zeitweise das Klassenzimmer nur verlassen, um auf die Toilette zu gehen. Sie sieht, wie Schüler die Joghurtbecher, die sie beim Mittagessen bekommen, in die Toilette mitnehmen und dort wütend zerdrücken oder gegen die Wand schleudern. Als diejenige, die danach das Chaos beseitigt, spürt Mama die Wut der Kinder in diesen Joghurtspritzern.

Kinderpolitik in China

Kinderpolitik in China

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die chinesische Bevölkerung in nur dreißig Jahren von 500 auf rund 900 Millionen. Um dieses explosive Wachstum einzudämmen, reagierte die Kommunistische Partei 1979 mit einer neuen Regel: Nur ein Kind pro Familie war erlaubt – mit nur wenigen Ausnahmen. Die Geburtenraten sanken mit der Zeit, doch die Ein-Kind-Politik hatte gravierende Folgen: Massenabtreibungen insbesondere von Mädchen, Zwangssterilisierungen, hohe Geldstrafen bei Verstößen und eine rapide Alterung der Bevölkerung, die das Fortbestehen der Sozialsysteme bedroht. Vor rund zehn Jahren kam die Kehrtwende: Die Regierung schaffte die Ein-Kind-Politik ab und erlaubte Paaren, bis zu zwei Kinder zu bekommen. 2021 wurde die Geburtenkontrolle weiter gelockert und auf drei Kinder ausgeweitet. Doch die Geburtenraten bleiben niedrig. Statt staatlicher Restriktionen sind es heute ein Wertewandel, unsichere Arbeitsverhältnisse und vor allem emotionaler Druck sowie ökonomische Belastungen, die viele Menschen in China von einer Familiengründung abhalten.

Warten, bis die Welt besser wird

等世界变好再生吧

Nachdem ich all dies geschrieben habe – diese Worte und Absätze – bin ich mir noch immer unsicher, wie viel davon ihr wirklich nachvollziehen könnt. Was ich sagen möchte, ist Folgendes: Jedes vermeintlich isolierte Problem erwächst aus denselben Wurzeln. Selbst wenn ich eines davon lösen könnte, wäre das nur ein verzweifelter Versuch zu überleben. Und selbst wenn wir die erkrankten Äste abschneiden könnten, leben wir noch immer unter demselben Baum, in gleichem Maße gebunden an sein Gedeihen und seinen Zerfall.

In den letzten Jahren hat die seelische Gesundheit von Kindern eine nie dagewesene Krise erlebt. Die Zahlen sind der Beweis. Am 10. Oktober berichtete das chinesische Staatsfernsehen, dass 17,5 Prozent der Schüler im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren an psychischen Störungen leiden. Soweit die offiziellen Zahlen. Ein Psychiater eines angesehenen Krankenhauses stellte fest, dass fast vierzig Prozent der Grund- und Mittelschüler in Shenzhen versucht hatten, sich selbst zu verletzen oder sich das Leben zu nehmen – und dass etwa ebenso viele Lehrpersonen an Depressionen litten. Um die Kinder davor zu schützen, wählen Eltern manchmal einen alternativen Weg: Sie stellen sich dem Druck selbst, verdienen mehr Geld, arbeiten noch härter und schicken ihre Kinder auf eine internationale, englischsprachige Schule. Um dies zu ermöglichen, müssen sie mindestens drei Millionen Renminbi sparen. Eine Freundin, die bei der Geburt ihres Sohnes beschlossen hatte, nur Englisch mit ihm zu sprechen, sagte einmal: „Englisch ist der letzte Ausweg für ein chinesisches Kind.“

Und ich? Soll ich mich ändern, mich anpassen – so wie es einer meiner Freunde getan hat?

Dieser Freund ist überraschend Vater geworden. Sein Kind entsprang einer ungeplanten Schwangerschaft und er hatte die Mutter erst vor etwa zwei Monaten kennengelernt. Heute aber lieben sie das Kind mit einer erstaunlichen Zärtlichkeit. Ich fragte ihn: „Hast du eigentlich Angst, dass dein Sohn eines Tages in einer Informationswelt aufwächst, der du nicht zustimmen kannst – in einer, die du nicht ausgleichen kannst?“ Ich fragte ihn, da ich wusste, dass er früher liberale politische Ansichten hatte. „Nun ja. Seit ich Vater wurde, habe ich mich stark verändert“, sagte er, „Wie?“, ich hätte die Antwort wohl erahnen können. „Wenn ich meinen Sohn sehe, dann denke ich, dass die Kameras eigentlich gut sind, dass das System gut ist.“ Er klang aufrichtig. „Kannst du mir ein sichereres Land nennen als China?“, fragte er. Ich konnte das Gespräch nicht weiterführen. Er ist nun jemand, der das Glas halb voll sieht.

Vielleicht werde ich mich eines Tages ändern, so wie er, und die Narrative der Regierung hinnehmen. Oder vielleicht werde ich die Letzte sein, die noch überzeugt werden muss. Doch die heutige Welt ist mir nicht schön genug, um einen weiteren Menschen in sie zu bringen. Also warte ich – bis ich mir sicher sein kann, dass ein Neugeborenes in eine Welt tritt, die Mühen und Magie in sich trägt, Schmerz und zärtliche Liebe, dass Menschen dort das Individuum achten, sich gegenseitig respektieren und den Planeten wohlwollend mit der Natur teilen. Dann zumindest könnte ich das Gefühl haben, dass es sich wirklich lohnt, hierherzukommen.

Auf Wunsch der Autorin wurde dieser Text unter einem Pseudonym veröffentlicht.

Dieser Artikel ist in der Novemberausgabe 2025 der Straßenzeitung zebra. erschienen. Dieser Artikel ist in der Novemberausgabe 2025 der Straßenzeitung zebra. erschienen.