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Wilde Stadt

Wilde Stadt Ein Artikel der Straßenzeitung zebra.

Für der Erhalt der Biodiversität und den Artenschutz wird der urbane Raum zusehends bedeutender. Hauptsächlich profitiert aber der Mensch von der Natur in der Stadt. In Zeiten des Klimawandels und der Pandemie wird „zurück zur Natur“ vom Trend zur Notwenigkeit. Deshalb werden Städte jetzt grüner.

Text: Lisa Frei

Foto: D. Asbach

Ein Artikel der Straßenzeitung zebra. vom Oktober 2021.


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Städte sind keine naturfernen Räume. Wenn sich die Möglichkeit bietet, holen sich Pflanzen und Tiere den Raum zurück, den sie benötigen. Das zeigt sich wenn verlassene Gebäude in wenigen Jahren von Pflanzen überwuchert werden oder etwa Füchse, Greifvögel und letzthin am Stadtrand von Rom sogar plündernde Wildschwein-Rotten ins urbane Gebiet vordringen. In Gegenden, die von Intensivlandwirtschaft geprägt sind, bieten Ortschaften und Städte mit ihren Gärten und Grünzonen wertvolle Zufluchtsorte für Vögel, Insekten und andere Kleintiere. Nist- und Fledermauskästen an Gebäuden, insektenfreundliche Dachbegrünungen, Balkongärten, Bienenweiden in Parks und blühende Verkehrsinseln gestalten längst auch die Stadtlandschaft. All das ist das Ergebnis zunehmender gesellschaftlicher Sensibilität. Vom Kindergartenkind bis zur Seniorin haben sich in den vergangenen Jahren die Menschen etwa um das Bienensterben gesorgt. Er wurde breit kommuniziert und Gemeinden – die einen mehr, die anderen weniger – haben Aktionspläne ausgearbeitet und lokale Projekte gestartet. Maßnahmen im Mikrobereich sind wichtig und haben in erster Linie Symbolcharakter. Aber das Insektenhotel auf dem Dach des Rathauses und die Bienenweide im Kreisverkehr reichen nicht aus, um das drohende Artensterben, den Klimawandel und die damit einhergehenden Katastrophen einzudämmen. Dafür braucht es ein radikales Umdenken und breit angelegte Maßnahmen. In diese Richtung argumentiert der Green Deal der EU, der „das nachhaltige Europa von morgen“ plant und zum Ziel hat, bis 2050 in der Europäischen Union die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null zu reduzieren und somit als erster Kontinent klimaneutral zu werden. Allein in Italien stehen derzeit 43 Milliarden Euro für die „Gründe Wende“ zur Verfügung. Eine zentrale Rolle nimmt dabei das Thema Urbanistik ein. Smarte Verkehrskonzepte sollen Emissionen reduzieren, gezielte Renaturierungen vor Fluten schützen, Fassadenbegrünungen und strategische Grünzonen das Stadtklima bei Hitze kühlen und noch vieles mehr soll wird in Angriff genommen. Argumentiert und kalkuliert wird zusehends mit dem im Wirtschaftsjargon bezeichneten „realen Wert“ von Natur. Am Beispiel von Städten lässt sich veranschaulichen, wie enorm dieser Wert in Geld bemessen, aber wie emotional aufgeladen und überlebenswichtig jedes Fleckchen grün auch darüber hinaus für die Menschen dort ist.
 
Dienstleister Natur
Neue Technologien und der Komfort des modernen Lebens haben die Bedeutung der Natur für den Alltag vieler Menschen in den Hintergrund gerückt. Der direkte Kontakt zur Natur und die unmittelbaren Auswirkungen von Naturereignissen sind in Städten kaum erfahrbar. Wie fragil und untrennbar verbunden das Wohl von Natur und Mensch ist, wird erst in der jüngeren Geschichte zunehmend Thema: Ohne Natur geht es nicht. Was logisch klingt und im Allgemeinwissen der meisten verankert ist, wird mit dem noch jungen Begriff der Ökosystemdienstleistungen nun klar beim Namen genannt. Diese Theorie monetarisiert die Leistungen der Natur für den Menschen und ist somit im System Kapitalismus komunizierbar. Die Natur bietet den Menschen unzählige Produkte und Leistungen, die genauer betrachtet unverzichtbar sind: Trinkwasser, Nahrungsmittel, Heizmaterial, Energieträger, Medikamente, Schutz vor Umweltereignissen wie Überschwemmungen und Bodenerosion, Klimaregulation, Kohlenstoffspeicherung, die Bestäubung von Kulturpflanzen durch Insekten und vieles mehr. All das sind Ökosystemdienstleistungen werden von der Natur „gratis“. Unsere Lebensqualität, sprich Ernährung, Sicherheit, Gesundheit und Erholung, ist unzertrennlich mit dem Erhalt von funktionieren Ökosystemen verbunden. Werden Ökosysteme in ihrer Funktion beeinträchtigt oder gar zerstört, sind auch deren Dienstleistungen oft unwiederbringlich verloren – mit verheerenden Folgen.

Gesund durch Grün
Während der Corona-Lockdowns mussten insbesondere Städter*innen schmerzlich erfahren, wie fundamental der Zugang zu Natur und Grünflächen für das eigene Wohlbefinden und die Gesundheit ist. Was in Japan schon zur gängigen Gesundheitsvorsorge gehört, nämlich der bewusste Aufenthalt in Wäldern zu Präventions- und Erholungszwecken, findet auch in der westlichen Medizin immer mehr Anklang. Dass sich saubere Luft, geringerer Lärm und Bewegung in der Natur positiv auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirken, ist bekannt. Eine kürzlich veröffentliche Studie deutscher Umweltinstitute in Zusammenarbeit mit den Universitäten Leipzig und Jena belegt nun zudem einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen dem reinen Vorhandensein von Bäumen und der psychischen Gesundheit von Städter*innen. Die Forschenden setzten die Daten von fast 10.000 Einwohner*innen der Stadt Leipzig mit Daten zu Straßenbäumen in Beziehung. So konnte ein Zusammenhang zwischen Antidepressiva-Verschreibungen und der Anzahl an Straßenbäumen in unterschiedlichen Entfernungen zu den Wohnorten der Menschen ermittelt werden. Weitere für Depressionen bekannte Faktoren wie Beschäftigungsstatus, Geschlecht, Alter und Körpergewicht wurden aus den Ergebnissen herausgerechnet. Es zeigte sich, dass mehr Bäume in unmittelbarer Umgebung des Wohnortes häufig mit einer geringeren Zahl von Antidepressiva-Verschreibungen einhergehen. Wenn Naturlandschaft und Stadtlandschaft als einheitliches System ohne klare Abtrennung wahrgenommen werden, werden die Menschen von Morgen weniger zur Erholung aufs Land fliehen und sich auch in ihrer unmittelbaren Umgebung wohler fühlen.

Kleiner Wald, große Wirkung
In den Niederlanden und Frankreich, 2020 auch in Deutschland, wurden in den vergangenen Jahren „Tiny Forests“ – Miniaturwälder in der Größe eines Tennisplatzes – angelegt. Die Idee dahinter: Mitten im Stadtgebiet entstehen dichte, schnell wachsende Wäldchen, die von Schmetterlingen, Vögeln, Bienen und kleinen Säugetieren bevölkert werden. Die kleinen, bewusst platzierten Wildniszonen sollen schnell hochwachsen und nicht erst in der nächsten Generation zu einem Wald werden. Auf kleiner Fläche werden möglichst viele diverse am Standort potentiell natürliche Baumarten gepflanzt, die frei wachsen können. So sollen die städtische Artenvielfalt, die Luftqualität und auch die Menschen davon profitieren, die in partizipativen Prozessen den Wald mitgestalten, ihn als Erholungs- und Lernort neu kennenlernen. Kritiker*innen bemängeln, dass die kleinen Wäldchen ökologisch gesehen bald Mängel aufweisen könnten, weil sie sich nicht ausbreiten und als in sich geschlossene Inseln im Beton- und Asphaltmeer längerfristig nicht überlebensfähig sind, ein Verlust an Arten mit der Zeit unvermeidbar sei. Neue Ansätze in der Begrünung von Städten versuchen daher klein strukturierte Grünflächen zu verknüpfen, etwa durch urbane Hecken oder strahlenförmige Grünstreifen und Baumreihen, die die Außenbereiche der Stadt mit dem Zentrum verbinden und eine Art grüne Infrastruktur bilden, auf der Tiere und Pflanzen sich ungestört bewegen können. Und natürlich auch Menschen.

Ohne geht es nicht
Die Welt besteht aus Ökosystemen und der Mensch ist ein bedeutender Teil dieser natürlichen Dynamiken. Längerfristig ist er dem Funktionieren dieser komplexen Geflechte auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Ob Ökosysteme funktionieren, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Die Grundlage für ihre Widerstands- und Anpassungsfähigkeit ist die biologische Vielfalt, die genetische sowie jene an Populationen und Arten. Je klarer die Bedeutung von Ökosystemdienstleistungen und die realen Kosten ihres Verlusts für die Menschheit kommuniziert, einkalkuliert und in allen Bereichen unseres Leben mitgedacht werden, umso nachhaltiger und verantwortungsvoller kann der*die Einzelne und die Gesellschaft als ganze agieren – egal ob es um die individuelle Gestaltung des Alltags oder um große, generationenübergreifende Infrastrukturprojekte und Städteplanung geht.

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