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Die belächelte Sucht

Die belächelte Sucht Ein Artikel der Straßenzeitung zebra.

Ein Beitrag und Interview zum Thema Kaufsucht. Die Kaufkraft ist für den Wohlstand unserer Gesellschaft fundamental. Welche Auswirkungen der Überkonsum auf Umwelt und Produzierende hat, wird zunehmend Thema. Aber auch vielen, die dem propagierten Shopping-Lebensstil hinterhereifern, wird er zum Verhängnis.

Text: Lisa Frei, Anna Mayr 
Collagen: Anna Mayr

Ein in Artikel der Straßenzeitung zebra. vom November 2020


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Die Kaufkraft ist für den Wohlstand unserer Gesellschaft fundamental. Welche Auswirkungen der Überkonsum auf Umwelt und Produzierende hat, wird zunehmend Thema. Aber auch vielen, die dem propagierten Shopping-Lebensstil hinterhereifern, wird er zum Verhängnis.

Das Problembewusstsein fehlt.

Ende November in der Bozner Innenstadt: Black Friday. Schaufenster und Vitrinen locken mit Rabatten: „-20% auf alles“ im großen Sportgeschäft. „50% auf Weihnachtsdeko“ gleich nebenan. Unzählige Menschen tummeln sich, mit Einkaufstaschen bepackt, in den Gassen. Schon vor Wochen habe ich beim Blick in den Kleiderschrank überlegt, ob ich für den Winter gerüstet bin: Stiefel, Mantel, Mützen, warme Pullis und dicke Strümpfe – alles da! Und dennoch: Beim Durchqueren der Laubengasse überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl der Unruhe. Die Stimmung schwappt auf mich über. Vielleicht brauche ich ja doch was? Heute wäre die optimale Gelegenheit. Schon übermorgen ist die Rabattaktion vorbei. Also: Nur kurz schauen!


„Die Kollegen in der Marketingpsychologie wissen ganz genau, welche Areale des menschlichen Gehirns sie mit ihren Botschaften ansprechen, um uns zum Kauf zu verführen“, sagt der Psychologe Edmund Senoner vom Therapiezentrum Bad Bachgart (siehe Kasteninterview). Der Wolkensteiner hat es täglich mit Menschen zu tun, die abhängig sind – von Alkohol und Drogen, aber auch vom Mobiltelefon, vom Glücksspiel oder von einer Sache, die wir alle tun: Einkaufen. Michaela*, 32, hat ihr Kaufverhalten nicht mehr unter Kontrolle. Wirklich bewusst darüber wird sich die Eisacktalerin erst, als sie wegen ihrer Essstörung und Depressionen beim Aufnahmegespräch im Therapiezentrum sitzt. „Shoppen war zwar auch eines meiner Probleme, aber ich hatte keinen Namen dafür“, sagt sie. Dabei erfüllt ihr Kaufverhalten alle Kriterien einer Suchterkrankung: Sie tut es, ohne es zu wollen und leidet darunter. Mit der Zeit steigerte sich die Dosis und wenn sie nicht einkaufen kann, geht es ihr schlecht.


„Jede Sucht ist der Versuch, ein Problem zu lösen. Das Kaufen dient hier der Gefühlsregulation und der Selbstwerterhöhung“, erklärt Senoner. Michaela kauft ein, um sich besser zu fühlen. Wenn sie traurig ist, sich langweilt oder einsam fühlt, greift sie zum Handy und scrollt durch die Online-Stores. Es sind die Glücksgefühle, der Nervenkitzel und die Vorfreude auf das Päckchen, die Michaela immer wieder auf „kaufen“ klicken lassen – ob sie will oder nicht. „Leider halten diese Gefühle nicht lange an und schon bald muss ich wieder etwas Neues kaufen“, sagt sie. Laut einer österreichischen Studie im Auftrag der Arbeiterkammer gilt jede vierte Person als kaufsuchtgefährdet. Dennoch ist diese Suchterkrankung vergleichsweise unbekannt. Sie wurde bisher in kein offizielles Diagnosehandbuch aufgenommen. Dabei scheint Kaufsucht bereits 1909 als „Oniomanie“ in einem psychiatrischen Lehrbuch auf. Auf der Webseite des Wiener Anton-Proksch-Institutes – eine der wenigen Einrichtungen, die eine eigene Therapiegruppe dafür hat – wird Kaufsucht als „heimliches Leiden“ beschrieben.

Das Leid der Betroffenen bleibt meist lange Zeit unbemerkt, wird nicht diagnostiziert. Vom persönlichen Umfeld werden Kaufsüchtige als „Shoppingqueens“ belächelt, oder als verschwenderisch und eitel verurteilt. Weil das Ausmaß unterbewertet und das Phänomen wenig bekannt ist, ist die Krankheit sogar stärker mit Scham besetzet als andere Abhängigkeiten. Kaufsüchtige verheimlichen, lügen und isolieren sich, um ihre Sucht zu verstecken. Sie leiden im Stillen. In Michaelas Kindheit war Geld Mangelware. Sie trug Kleider, die ihr Verwandte weitergaben und wurde in der Schule dafür gemobbt. Den Lohn ihres ersten Sommerjobs investierte sie dann ausschließlich in Klamotten.


„Endlich gehörte ich dazu, endlich bekam ich Anerkennung“, erinnert sie sich. Später im Berufsleben ging es weiter: Oft hatte sie schon Mitte des Monats ihr ganzes Geld ausgegeben. Dass sie sich noch nicht verschuldet hat, verdankt sie ihrem Partner, der Einkäufe und Rechnungen für die Familie übernimmt, wenn Michaela wieder knapp bei Kasse ist. Obwohl der finanzielle Aspekt in Michaelas Familie nicht so schwer wiegt, leidet ihre Partnerschaft darunter. Probeweise überlies sie die Kreditkarte ihrem Partner. „Als ich nicht mehr einkaufen konnte, wurde ich zur Furie“, sagt sie. Sie fand alle möglichen Ausreden dafür, einkaufen zu müssen: Weihnachten, Schlussverkauf, Sachen für das Kind, Geschenke. Was sie rückblickend am meisten schmerzt, ist der Vertrauensverlust: „Als ich einmal versprach, weniger zu kaufen, merkte ich, dass mein Freund mir nicht mehr glaubte.“


In Michaelas Wohnung gibt es ein eigenes Zimmer nur für ihre Kleidung. Anfangs ordnete sie ihre Stücke noch liebevoll, später blieben schon mal die Preisschilder dran und die Klamotten ungetragen. Der Kick und die Freude beim Kauf hält nur mehr ganz kurz an. Heute packt sie ein geliefertes Päckchen oft gar nicht mehr aus. Im KleiderZimmer herrscht Chaos. „Es kommt dem Messie-Syndrom, einem Sammelzwang, sehr nahe“, sagt Edmund Senoner. Auch der Aspekt der Nachhaltigkeit liegt Michaela eigentlich am Herzen. Berichte über die Auswirkungen der Kleidungsindustrie machen sie betroffen. „Ich bin mir auch bewusst, was ich mit dem Geld stattdessen tun könnte: verreisen, schöne Momente mit der Familie erleben, aber kaum stehe ich im Geschäft oder klicke durch Zalando, ist alles vergessen“, sagt sie. Manchmal schafft sie es, ein Geschäft ohne Einkauf zu verlassen. Aber dann, zuhause, holte sie die Sucht ein und sie kann dann an nichts Anderes mehr denken.

Eine Stimme in ihrem Kopf sagt ihr zwar, dass sie diese fünfte Winterjacke gar nicht braucht, die andere aber ist lauter: „Nur noch diese eine Jacke, dann ist Schluss!“ Und sie kauft das Teil dann doch. „Danach aber kommt der Absturz, das schlechte Gewissen, die Selbstvorwürfe und die Scham“, beschreibt sie. Wer es schafft, sich seine Abhängigkeit einzugestehen und sich in Therapie begibt, steht bald vor der nächsten Besonderheit dieser Sucht: Abstinenz ist keine Option. Auf das Einkaufen kann nicht gänzlich verzichtet werden. „Das Ziel der Therapie ist es deshalb, die Kontrolle wiederzuerlangen und Alternativen zur Gefühlsregulation zu finden“, erklärt Edmund Senoner. Im Therapiezentrum hat Michaela viel Zeit, um herauszufinden, welche Tätigkeiten und Dinge ihr statt des Einkaufens ein gutes Gefühl geben. Sie arbeitet aktiv daran, ihren Selbstwert neu zu definieren. Sie will ihre Probleme und die Sucht in den Griff bekommen und bald zu ihrer Familie zurückkehren.


Besonders der Gedanke an ihre Tochter spornt Michaela an. Sie weiß, wie groß ihr Einfluss als Vorbild auf sie ist „Ich möchte ihr unbedingt zeigen, dass es viel Wichtigeres gibt, als das Aussehen und schöne Kleider und ihr mitgeben, wie wertvoll sie als Mensch ist.“ Michaela hat die ersten Hürden geschafft und auch auf einer anderen Ebene tut sich etwas: Im vergangenen September veröffentlichte ein deutschaustralisches Forschungsteam rund um die Medizinische Hochschule Hannover die Ergebnisse einer Umfrage unter 138 Expert*innen aus 35 Ländern, die krankhaftes Kaufverhalten erforschen. Daraus wird nun ein diagnostischer Kriterienkatalog erstellt, der dazu beitragen soll, Kaufsucht als psychische Störung in das international anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen der WHO aufzunehmen. Dies wäre ein erster großer Schritt weg von der Stigmatisierung hin zu einem breiteren Umgang mit dem Phänomen als das, was es ist: eine Krankheit. Die diagnostiziert, behandelt und geheilt werden kann.

„Kaufen, um zu kompensieren“
Der Psychologe und Psychotherapeut Edmund Senoner koordiniert den Bereich Sucht im Therapiezentrum Bad Bachgart. Er weiß, wann Einkaufen zum Problem werden kann.

 

Edmund Senoner

Wann spricht man von einer Kaufsucht?
Edmund Senoner: In der Symptomatik gibt es viele Parallelen zu Zwangserkrankungen und substanzbezogenen Suchterkrankungen. Kaufsüchtig ist, wer permanent einen sehr starken und belastenden Drang verspürt, einzukaufen und die Kontrolle über das eigene Verhalten verliert. Betroffene vernachlässigen wichtige Aufgaben und soziale Kontakte, sie versuchen oft ihr Kaufverhalten zu verheimlichen und zeigen Entzugserscheinungen. Das Ausmaß des Problems zeigt sich allerdings meist erst sobald ernstzunehmende Geldsorgen oder Konflikte mit dem sozialen Umfeld so weit voranschreiten, dass die Situation existenzbedrohend wird. Laut einer österreichischen Studie im Auftrag der Arbeiterkammer gelten 24 Prozent der Menschen als kaufsuchtgefährdet.


Spiegeln sich diese Zahlen auch in der Praxis wider?
Die Zahl der Menschen, die mit akuter Kaufsucht zu uns kommen, ist eher gering. Es sind aber immer wieder einzelne, und öfter sehen wir sie als Begleiterscheinung anderer Erkrankungen wie Essstörungen, Depressionen, Ängsten und Zwangsstörungen. Das Einkaufen ist dann, wie jede Sucht, ein weiterer Problemlösungsversuch: zum Kaschieren eines geringen Selbstwertes, zur Belohnung in Stresssituationen, zur Ablenkung oder Aufmunterung bei Trauer. Es wird gekauft, um ein schlechtes Gefühl zu kompensieren.

Ist diese Sucht ein Phänomen unserer Zeit?
Wir leben in einer unerbittlichen Konsumgesellschaft. Wer konsumiert, gehört dazu. Im Internet können wir rund um die Uhr einkaufen. Ständig sind wir von Werbung und Vorbildern umgeben, die uns beeinflussen. Auch finanziell ist heute viel möglich, es wird viel auf Pump gekauft und die Banken sind bei der Kreditvergabe großzügig. Gesellschaftlich ist es angesehen, immer nach der neuesten Mode gekleidet zu sein. Wer viel kaufen kann, wird bewundert. Wenn Einkaufen zum Problem wird, schaut das Umfeld daher oft lange weg.


Wer sind die Betroffenen? Was eint sie?
Es sind zum Großteil Frauen, viele sind noch relativ jung. Am häufigsten wird Kleidung gekauft, aber auch Kosmetika und Einrichtungsgegenstände. Männer kaufen mehr Elektronikartikel. Oft sind es Menschen, die keinen Bezug zum Geld und nie gelernt haben, damit umzugehen. Kaufsüchtige haben oft einen sehr geringen Selbstwert und definieren sich darüber, wie sie aussehen, was sie besitzen und wie sie bei anderen ankommen. Sie suchen Bestätigung und Wertschätzung im Außen. Oft sind es aber auch Menschen, die sehr unter Druck stehen, immer volle Leistung bringen und sich durch den Konsum belohnen.


Wie sieht die Therapie bei Kaufsucht aus?
Einkaufen ist etwas, das wir alle tun. Abstinenz ist daher keine Option. Wenn jemand ins Therapiezentrum kommt, wird zunächst dennoch versucht, eine Zeitlang nichts zu kaufen. Ein wichtiger Aspekt ist dann der Umgang mit Geld, der oft neu gelernt werden muss. Es wird etwa versucht ohne Kredit- und Bankomatkarte innerhalb einer Zeitspanne mit einer bestimmten Summe auszukommen. Zentral ist auch das Thema Selbstwert. Therapeutisch wird darauf hingearbeitet, andere Kanäle zu aktivieren, die den Selbstwert wieder steigern. Da geht es um Selbstwertschätzung, Selbstliebe und generell jene Werte, die unabhängig von Konsum, Aussehen und Besitztümer sind.
Was können wir als Gesellschaft und als Einzelne tun?
Gegen die Konsumgesellschaft ist es schwer, zu intervenieren. Zu groß ist das Geschäft dahinter. Gerade in der Vorweihnachtszeit oder im Schlussverkauf wird diese Sucht getriggert. Wichtig ist deshalb die Sensibilisierung: Können wir auch reduzierter leben? Welche Werte sind wirklich wichtig? Das fängt schon in der Kindheit an. Da beginnt der Konkurrenzkampf, da wird verglichen, beneidet und konkurriert. Hier gilt es, Kinder so weit zu stärken, dass sie immaterielle Werte schätzen und auch einen gesunden Selbstwert entwickeln können. Als Einzelne können wir darauf achten, in täglichen Begegnungen Menschen nicht ständig auf ihr Äußeres, die neuen Schuhe, die tolle Handtasche anzusprechen, sondern den Blick für das Wesentliche zu schulen.

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