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Wir sind dauernd von Bildern perfekter Körper umgeben- ob in den sozialen Netzwerken oder als Werbung an der Bushaltestelle. „Bilder gehen nahe und noch bevor ich überhaupt darüber nachdenke, fühle ich etwas.“, meint Julia Psenner. Die 30-Jährige arbeitet als Sozialpädagogin an einer Mittelschule und beschäftigt sich sowohl beruflich als auch privat mit dem Thema Körper und Selbstwert. Eine Bilder-Geschichte aus Südtirol spürt unter anderem der Frage nach, warum viele Menschen unter ständigen Vergleichen leiden.
Text: Lisa Frei
Fotos: Georg Hofer
Ein Artikel der Straßenzeitung zebra. vom Juli 2018.
Tagtäglich sind wir von Bildern makelloser Körper umgeben. Jede*r weiß, dass uns Photoshop und Co. falsche Schönheit vorgaukeln, und ein Besuch im Freibad genügt, um festzustellen, dass kaum jemand mit den Idealen mithalten kann. Warum leiden dennoch so viele Menschen unter den ständigen Vergleichen? Eine Bilder-Geschichte aus Südtirol.
Miss Südtirol sucht mich. Dem lokalen Sportartikelanbieter liege ich am Herzen, denn: „Frauen sind einzigartig“. So steht das auf Plakaten an der Haltestelle in Brixen. Endlich kommt der Bus. Eine kleine alte Dame mit Stock, zwei Klosterfrauen und eine Gruppe junger Mädchen in zerrissenen Jeans steigen aus. Ich steige ein.
In einem Café in Bozen treffe ich Julia Psenner: Leggins und lila Kleid, blaue Strähnen im Haar, Piercings in Ohren und Nase, Oberarme und Dekolleté tätowiert. Forschend schauen ihre dunklen Augen. Sie weiß, man übersieht sie nicht. Die 30-Jährige arbeitet als Sozialpädagogin an einer Mittelschule und beschäftigt sich sowohl beruflich als auch privat mit dem Thema Körper und Selbstwert. Durch Zufall hat sie für sich ein Mittel entdeckt, um sich und ihren Körper so zu akzeptieren, wie er ist: Fotoshootings. Den vermeintlichen Idealbildern bietet sie mit ihren Fotos die Stirn. Unter dem Künstlernamen „Lady Falena“ regt sie auf diversen Plattformen zum Nachdenken an – über Weiblichkeit, Körperbilder und Schönheitsideale.
„Werbung ist Werbung, die Distanz ist groß, aber was ist mit den sozialen Medien? Das sind doch Leute wie du und ich!“, sagt Julia Psenner und fasst sich an den Kopf, „Bilder gehen nahe und noch bevor ich überhaupt darüber nachdenke, fühle ich etwas.“ Gerade junge Menschen folgen ihren Vorbildern auf Instagram, YouTube und Facebook. Sie vergleichen sich, leiden unter den eigenen Makeln. „Das könnte ich sein, aber warum sehe ich nicht so aus?“ Deshalb sei es beispielsweise sinnvoll mit Jugendlichen die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung und andere Techniken wie Beleuchtung, Perspektive, Körperpose zu thematisieren, mit denen bei Fotoshootings getrickst und nachgeholfen wird, meint die Sozialpädagogin. Dann wird schnell klar: Von der Realität sind diese Bilder weit entfernt.
Am Nebentisch blättert eine Frau in einer italienischen Illustrierten und sieht sich Paparazzi-Fotos von Promis im Bikini an. Ich erinnere mich an eine Werbeanzeige in einer ähnlichen Zeitung, die sich in meine Erinnerung eingebrannt hat: „La cellulite è una malattia!“ lautete der Slogan. Daneben das Foto einer Frau mit makellosen Oberschenkeln.
In Frankreich müssen Reklame-Bilder per Gesetz mit einem Vermerk gekennzeichnet werden, der klarstellt, dass es sich dabei um retuschierte Fotos handelt. Eine Maßnahme, die nicht von ungefähr kommt: Immer mehr Jugendliche eifern den Models und Vorbildern nach – mit fatalen Folgen. Die Betroffenen von Essstörungen, Sportsucht und Depressionen werden immer jünger. Raffaella Vanzetta, Koordinatorin der Fachstelle für Essstörungen INFES in Bozen, führt das auch auf die Auswüchse und den steigenden Druck der Leistungsgesellschaft zurück: „Es genügt nicht mehr nur schlank zu sein, man sollte auch fit sein. Fitness wird mit Disziplin und Stärke verbunden!“, sagt sie. In Versuchen wurde nachgewiesen, dass schlanken und sportlichen Menschen in der Regel mehr Kompetenz und Ehrgeiz zugetraut wird als dickeren. Wer der Norm nicht entspricht, gilt als faul und muss sich anstrengen, um dem Ideal näherzukommen. Zudem wird Schlanksein mit Gesundheit gleichgesetzt. „Aber so einfach ist es nicht!“, meint die Expertin. Vielmehr sei es so, dass jeder Mensch ein individuelles Idealgewicht und einzigartige Körperformen hat, die sehr stark von genetischen Voraussetzungen abhängen. Und: Wie wir welche Art von Körper interpretieren, ist gesellschaftlich und kulturell sehr unterschiedlich. „Das thematisieren wir auch in der Präventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen“, sagt Vanzetta, deren derzeit jüngste Patientin neun Jahre alt ist.
Das Internet trägt zum Schönheits- und Fitnesswahn maßgeblich bei, und dennoch birgt es auch Chancen: Immer mehr Menschen nutzen die sozialen Netzwerke zum Ausdruck ihres Protestes: „Die Filterblase der sozialen Medien kann mich total runterziehen, oder ich kann sie für mich nutzen“, weiß Julia Psenner. Wenn schon nicht im öffentlichen Raum, so könne man sich im Internet sehr wohl aussuchen, mit welchen Bildern man sich umgibt. Es gäbe vielfältige Frauen und tolle Vorbilder: „Ich folge auf Instagram und Facebook gezielt nur Menschen, die mir ein gutes Gefühl geben und mich motivieren.“ So wie die junge Engländerin, die in den Geschäften die Bikinis von den aktuellen Reklametafeln anprobiert, um dann ein Foto von sich zu posten und der Welt zu zeigen, wie das beworbene Teil „wirklich“ aussieht. Auf anderen Plattformen machen sich Frauen über aktuelle Diät-Trends lustig und rufen zum Genuss und zum selbstbewussten Strandbesuch auf – egal mit welcher Figur.
„Bilder gehen nahe und noch bevor ich überhaupt darüber nachdenke, fühle ich etwas.“ , meint Julia Psenner.
Es ist heiß in Bozen. Auf dem Weg zum Bahnhof gehe ich an großen Plakatwänden vorbei. Intimissimi, Calzedonia, Antigel: junge schlanke Köper in Unterwäsche und Bademode. Ein paar Schülerinnen sitzen auf den Treppen vor dem Bahnhof und essen Eis. Hinter den Geleisen flimmert der Schlern in der sommerlichen Hitze. Vor wenigen Tagen postete die landeseigene Marketinggesellschaft auf Facebook das Bild einer Frau, die bekleidet in der Sonne liegt. Darüber der Satz: “Ho fatto la prova costume… me ne vado in Alto Adige.” Der Aufschrei in der Öffentlichkeit war groß. Dabei waren es Frauen, die den Beitrag erstellt hatten. Eine Tatsache, die später von den Verantwortlichen dazu genutzt wurde, die offensichtlich diskriminierende Botschaft zu verharmlosen.
Julia Psenner wünscht sich einen neuen Blick auf den Körper, mehr Vielfalt und Solidarität. Ihr Appell richtet sich ganz dezidiert an Männer und Frauen: „Warum setzen wir die Bemerkung ‚Du hast abgenommen!‘ mit einem Kompliment gleich? Wir sollten damit aufhören, ständig das Aussehen und den Körper anderer Frauen zu thematisieren.“ Frauen wachsen mit dem Bewusstsein auf, dass ihr Aussehen und ihr Körper wichtiger sind als andere Eigenschaften. Und durch ihr Verhalten reproduzieren sie dieses Phänomen wiederum. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man ein Mädchen für seine hübsche Frisur und das tolle Kleid lobt, oder mit der Freundin über die Figur oder das Outfit einer andern lästert. Auch hohe Politiker*innen sind betroffen: Das Dekolleté von Angela Merkel oder die Schuhe von Maria Elena Boschi schafften es bis in die Schlagzeilen der Zeitungen. „Wir Frauen sollten einander stärken und das wertschätzen, was wir tun und nicht unser Aussehen!“, sagt Julia Psenner.
Im Südtiroler Sanitätsbetrieb wurden im vergangenen Jahr 443 Personen mit Essstörungen behandelt. 93 Prozent davon waren weiblich, 29 Prozent minderjährig. Die Dunkelziffer wird viel höher eingeschätzt. Bei weitem nicht alle Menschen, die an Essstörungen leiden, wenden sich an eine Beratungsstelle oder begeben sich in Behandlung. Der Übergang vom gestörten Essverhalten zur akuten Essstörung ist meist schleichend. Auch Buben und Männer sind betroffen. „Während Frauen eher durch Diäten in eine Essstörung rutschen, ist es bei männlichen Betroffenen meistens der Sport“, sagt Raffaella Vanzetta von der INFES.
Ständig trainieren, dabei ein Selfie posten, mit Apps und Fitnessuhren Schritte, Höhenmeter und Kalorien zählen, den BMI (Body Mass Index) berechnen: Selbstoptimierung ist gerade „in“ und immer mehr Menschen beschäftigen sich intensiv mit ihrem Körper. Das bestätigt auch Danilo Zanarotto, selbstständiger Physiotherapeut und Fitnesstrainer in Sterzing. In den vergangenen Jahren sind es vermehrt junge Leute, die zu ihm ins Studio kommen – oft mit dem Wunsch möglichst schnell an Muskelmasse zuzulegen. Dann klärt der ehemalige Bobfahrer der italienischen Nationalmannschaft erst mal auf: „Jeder Körper ist individuell und wir können nicht alle so aussehen wie die Leute in der Zeitung!“ Außerdem sei es wichtig, sich beraten zu lassen und langsam und kontinuierlich zu trainieren, auch um Verletzungen vorzubeugen. „Wer eher schlaksig ist, wird über ein bestimmtes Muskelmaß nicht hinauskommen und wer – so wie ich – dazu neigt, schnell Muskeln aufzubauen, der nimmt wahrscheinlich auch schneller zu und wird niemals schlank und drahtig sein!“, erklärt der 28-Jährige. Den Einsatz von „Wundermittelchen“ und strenge Diäten lehnt er ab. Dass es heute beim Sport vermehrt ums Aussehen geht, findet er schade. Dennoch gibt es für ihn keine Alternative: „Sport ist das einfachste und günstigste Heilmittel und Vorbeugung für viele Beschwerden – auch mentale“, davon ist er überzeugt. Es komme immer darauf an, mit welchen Erwartungen wir an die Sache herangehen.
Während in den lokalen Tagesmedien die „heißesten Spielerfrauen der WM“ (Dolomiten, 28. Juni) und Südtirols Topmodels (Tageszeitung, 23. Juni) gesucht werden, treffe ich Julia Psenner zum Fotoshooting in Neustift. „Ich ermahne die Fotografen immer: ‚Zaubert mir bloß keine Kilos weg!‘“, erzählt die 30-Jährige während sie ihren Bikini zurechtzupft. Es nütze schließlich nichts, Sensibilisierung zu betreiben und zu kritisieren und dann wiederum retuschierte Bilder von sich zu verbreiten. Sie will ein starkes Vorbild sein. Die Rollen, in die sie für ihre Shootings schlüpft, sucht sie selbst aus. So entdeckt sie neu Seiten an sich, die sie mit in den Alltag nimmt und die ihr Energie und Selbstvertrauen geben. In schwierigen Momenten kramt sie manchmal ein bestimmtes Bild hervor und tankt so neue Kraft. Ihre extravaganten Kostüme und Outfits näht sie großteils selbst. Im nächsten Jahr möchte sie mit ihren Schüler*innen ein Näh-Projekt machen. „Nichts führt uns anschaulicher vor Augen, wie unterschiedlich und einzigartig jeder Körper ist, als das Maßschneidern!“, sagt sie und lächelt selbstbewusst in die Kamera.